Hamburgs Kinder fallen zunehmend unter die Armutsgrenze

/ / MAhL ZEIT

Hamburg steht kurz vor den Wahlen, so dass das Thema Kinderarmut bei den politischen Parteien augenblicklich aktuell ist. Auch auf einer Fachtagung der Patriotischen Gesellschaft, des Senats und der Universität Hamburg wurde zwar kürzlich das Thema „Kinderarmut und Bildung in Hamburg“ von allen Seiten kritisch beleuchtet. Doch durch die wortgewaltigen Reden und Betroffenheitsrhetorik der Politiker zu den Ursachen und Maßnahmen dringt häufig der mangelnde politische Wille für eine materielle Verteilungs- und bildungspolitische Chancengerechtigkeit an die Oberfläche. Kinderarmut ist in einer der reichsten Metropolregionen mit den meisten Einkommensmillionären Europas ein unüberwindbares Problem mit künftig steigender Tendenz.

Jedes vierte Kind in Hamburg unter 15 Jahren ist arm und abhängig von staatlichen Transferleistungen in Hamburg. Bezieht man die Jugendlichen bis 18 Jahren mit ein, sind es allein in der Elbmetropole 65.070 Kinder und Jugendliche, die unter die Kategorie „staatlich verordneter Armut“ fallen, so aus dem Armutsbericht Deutschland gezogenen Zahlen der Behörde für Familie und Soziales in Hamburg.

Alle Senatsparteien im Wahlkampf diskutieren das Thema derzeit kontrovers. So wurde vor allem der von der CDU im Dezember 2007 vorgelegte Lebenslagenbericht des Stadtstaates auf seine Schwachstellen analysiert. Der SPD-Sozialexperte Dirk Kienscherf bemängelte vor allem „die peinlichen Lücken“ des Berichtes, der auf eine Armutsanalyse ganz verzichte und somit auch keine Grundlage für Ursachenbekämpfung bieten könne. Demnach weiche die CDU von ihrem seit 2004 eingeleiteten Regierungsprogramm der „Metropole Hamburg als wachsende Stadt“ nicht ab und sehe auch keine Notwendigkeit, bei der im Juni 2007 in Auftrag gegebenen staatlichen Untersuchung von 206123 Menschen aus Hamburg die Armutssituation der Hartz IV-Familien und deren Kinder zu untersuchen.

Während unter der rot-grünen Regierung zwischen 1992 und 1997 immerhin drei Armutsberichte erstellt wurden, hat mit der Regierungsübernahme der CDU im Senat 2001 die Senatorin der Behörde für Familie und Soziales Birigit Schnieber-Jastram diese für „unnötig“ erklärt. Doch die Not der Kinder, die teils an materieller Unterversorgung, teils an Verwahrlosung leiden, nimmt auch in Hamburg ständig zu.

Ein Fallbeispiel für Kinderarmut mit materieller Not und räumlicher Enge in sozial benachteiligten Vierteln

Eine sechsköpfige Familie, die an der Grenze zwischen dem Hamburger Stadtteil Veddel und dem sozial benachteiligten Viertel Alt-Wilhelmsburg eine Sozialwohnung bezogen hat, kämpft um ihr Überleben. Im Viertel wohnen türkische, spanische, italienische Familien, beinahe alle Nationalitäten sind vertreten. Die Armut in den Migrantenfamilien und die steigende Kriminalität besonders auf der Habsburger Chaussee deuten weniger auf ein multikulturelles Stadtviertel mit gelungener Integration hin, sondern auf Parallelgesellschaften, die an der Peripherie des reichen Stadtkerns wegen der sprachlichen, sozialen und wirtschaftlichen Probleme wie in Ghettos leben.

Nach Ansicht von Karl-Dieter Schuck von der Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg werden zu viele Kinder wegen wirtschaftlicher und kultureller Armut der Eltern an den gesellschaftlichen Rand gedrückt und gedemütigt. „Deutschland ist kein Bildungsland mehr“, sagt er, da der Pflichtschulbesuch sozial benachteiligter Kinder zu einem aussichtslosen Kampf wegen ständiger Leistungs- und Notenselektion um Erfolg und Anerkennung wird. Die Schere zwischen arm und reich wird auch unter den Kindern immer größer.

Die Mutter der sechsköpfigen Familie Peggy Schmitt mag das Viertel Wilhelmsburg trotz seiner sozialen Gegensätze.

Ich fühle mich im Viertel wohl. Fleisch und Eier kaufe ich beim Türken. Allerdings bleiben die ausländischen Familien unter sich. Es entstehen auch beim Einkauf keine dicken Freundschaften. Unser Schlafzimmerfenster geht zur Straße und nachts hören wir in der Habsburger Chaussee das Blaulicht. Dort ist High Life in allen Ecken. Ich falle hier mit meinen vier Kindern tagsüber nicht auf, auf wenn wir nicht so gut wie die Leute im reichen Eppendorfer Stadtviertel gekleidet sind.
Peggy Schmitt, die eine abgeschlossene Berufsausbildung als Kauffrau für Bürokommunikation hat und ihr Mann, der zuvor im Sicherheitsdienst gearbeitet hat, jobben nunmehr in einem Hamburger Call Center mit 7,67 € Grundlohn, so dass sie vom Gehalt alleine ihre Familie nicht satt bekommen. Deshalb beziehen sie staatliche Aufstockung von monatlich 250 bis 300€. Doch auch mit dem Hartz IV-Zuschuss können die Facetten der Armut, die besonders die vier Kinder benachteiligen, nicht beseitigt werden.

Wir haben 150€ Wochengeld zur Verfügung. Das sind 20€ pro Person pro Woche. Meine zwölfjährige Tochter Jacqueline bräuchte einen neuen Badeanzug für den Schwimmunterricht in der Schule. Einen neuen für 30€ bei Karstadt kann ich ihr nicht kaufen, also muss sie mit ihrem alten Bikini schwimmen.
Peggy Schmitt
Ihr großer Sohn Daniel, 15 Jahre, hat es ein bisschen besser als seine Geschwister. Er hat nicht nur als einziger ein eigenes Zimmer, er steht auch auf Markenklamotten, vor allem teure Sportmarken, die er sich mittlerweile selbst kaufen kann, da er mit dem Austragen des Wochenblatts monatlich 80€ dazuverdient. Doch wenn die Mädchen (8 und 12 Jahre), die sich mit ihrem Bruder (6 Jahre) ein Zimmer teilen, neue Schuhe brauchen, ist Peggy Schmitt verzweifelt. „Solange es nicht schneit, können sie die festen Halbschuhe vom Herbst noch tragen“, beruhigt sie sich. Die Kleidung der Kinder kommt bis auf die Unterwäsche aus der Kleiderkammer in Neuwulmsdorf. Peggy Schmitt hat dort eine Bekannte, die sie anruft und ihr das Vorrecht vor anderen hilfsbedürftigen Familien lässt, sich das Passende für sich und die Kinder auszusuchen, sobald die Container mit gebrauchter Kleidung aussortiert sind.

Das Weihnachtsfest im letzten Jahr fiel für die Kinder gut aus. Es gab Geschenke und reichlich gutes Essen auf den Tisch. Doch die für die Eltern eigentlich unerschwingliche Großzügigkeit hatte gravierende Folgen. Die Eltern konnten die Januarmiete nur zur Hälfte bezahlen, so dass die Wohnungsbaugesellschaft mit der Kündigung des Mietverhältnisses drohte.

Wir wollten dann die 400€ Mietschulden in kleinen Raten nachbezahlen. Doch die Baugesellschaft ließ sich auf unseren Vorschlag überhaupt nicht ein, so dass, wenn der mit uns befreundete Pastor aus der Gemeinde Neuwulmsdorf uns nicht das fehlende Geld geschenkt hätte, die ganze Familie auf die Straße gesetzt worden wäre.
Vater Thorsten Schmitt
Ein warmes Essen gibt es meist am Wochenende, da die Kinder in der Schule bereits ein Mittagessen bekommen.

Gibt es Obst, verzichten wir dafür auf den Aufschnitt. Gemüse und Brot kaufen wir in den Supermärkten erst kurz vor Ladenschluss, um den Blumenkohl statt für 1,59 € für 40 Cent oder die Brote günstig zu bekommen.
Thorsten Schmitt stand auch bei der gemeinnützigen Wilhelmsdorfer Tafel um 9 Uhr für Lebensmittel Schlange. Da er nicht der Erste war, zog er eine hohe Nummer und musste Stunden warten. Als er an der Reihe war, gab es kaum noch Lebensmittel und „das Essen war bereits schlecht; die Gurken schrumpelig und hellgelb und die Bananen braun.“ Dennoch wurden bei den Kindern Peggy Schmitts bei den medizinischen Vorsorgeuntersuchungen keine Mangelerscheinungen wegen zu wenig oder falscher Ernährung festgestellt. Peggy Schmitt strengt sich jeden Tag an, mit wenig Geld, eine ausgewogene Mahlzeit, deren Rezepte sie von einer Kochseite im Internet täglich bezieht, auf den Tisch zu stellen. Essen aus der Dose vermeidet sie ganz, da sie bei ihrem ersten peruanischen Ehemann das Kochen mit frischen Lebensmitteln gelernt hat. „Die Kinder sind gesund, sie gehen auch nicht ohne Frühstück und Brote für die Schule aus dem Haus.“

2,7€ täglich für Essen und 1,57€ monatlich für Schulsachen armer Kinder

Auf den ersten Blick sieht man den Kindern Peggy Schmitts nicht an, dass sie arm sind. Die Blässe in ihren Gesichtern könnte auch auf den Winter zurückzuführen sein. Sieht man jedoch genau hin, so haben die Kinder auch Probleme in der Schule, bräuchten mehr Motivation und Hilfe, um ihre Hausaufgaben zu erledigen. Zudem leidet die zwölfjährige Jacqueline unter dem ADS (Aufmerksamkeitsdefizit)-Syndrom in der Schule, das medikamentös behandelt wird.

Die Begründerin der Hamburger Tafel Annemarie Dose bezeichnet auch dann Kinder als arm, wenn die Eltern wegen der materiellen Not keine Zeit für Gespräche, Spielenachmittage oder Hausaufgabenbetreuung haben. Um dem entgegen zu wirken, hat der Senat ein Hausbesucherprojekt 2007 für 50 und 2008 für nunmehr 100 Familien initiiert, „wobei über 18 Monate die Lernfähigkeit der Kinder gefördert und die Mütter als natürliche Erzieher in ihrer Funktion unterstützt werden“, erklärt Bürgermeisterin Birgit Schnieber-Jastram auf der Fachtagung zum Thema Kinderarmut. Dafür wendet der Senat jährlich 123.000 € auf, ein Betrag, der aus dem Budget zur Unterstützung von Kindern und Jugendliche mit 672 Millionen € für 2007 fließt.

Doch Christoph Butterwegge von der Universität Köln kritisiert die Begrenztheit der Hilfen und Armutsdebatte in der Bundesrepublik, so dass nur den Wenigsten geholfen werden kann. 4,4 Millionen Kinder leben in Hartz IV Haushalten. Während es in Starnberg nur 3,9% der Kinder sind, beläuft sich die Zahl in Görlitz auf immerhin 44,1%. Ähnlich hoch schätzt Butterwegge die Situation im Stadtteil Wilhelmsburg in Hamburg ein. Rund 60% aller Kinder in Hartz IV-Haushalten leben monatlich von nur 208€. Das bedeutet 2,7€ täglich für jedes Kind für Essen und Trinken und 1,57€ monatlich für Schulmaterial.

Butterwegge sieht hierin keine realistische Grundlage, „um Bildungsgerechtigkeit, die die Politik als Wunderwaffe gegen die vererbte Armut einzusetzen wünscht, zu erreichen“. Kinder aus Flüchtlingsfamilien, Kinder von Eltern mit einem Aufenthaltsstatus sowie Kinder aus Hartz IV Familien seien auch weiterhin zur Armut verurteilt, solange die politischen Parteien nicht bereit sind, eine Reichtumsverteilung zu starten, indem beispielsweise die Gewinne der Kapitalgesellschaften steuerlich mehr belastet werden (statt wie augenblicklich zu 15% sollten wie unter der Kohl-Regierung 53% besteuert werden), so Butterwegge. Kinderarmut sei ein Armutszeugnis unserer Gesellschaft, die sich zunehmend nach den Gesetzen des Marktes richtet und „heuchlerisch, unehrlich und blauäugig mit dem Problem“ verfahre. Nicht berücksichtigt werde im politischen Diskurs der Parteien vor der Wahl die Auflösung der normalen Arbeitsverhältnisse mit der Zunahme von Massenentlassungen, Zwangsteilzeit und Minijobs, wobei Menschen, die Vollzeit arbeiten von ihrer Hände Arbeit nicht mehr leben können. Die Regierung weigere sich auch, über Rahmentarifverträge branchenweit den Mindestlohn zu verankern. Patchwork-Familien, die Auflösung der üblichen Bildungsbiographie sowie der Abbau des Sozialstaates seien die wesentlichen Ursachen für Kinderarmut, so Butterwegge. Deshalb plädiert er für mehr Ganztagsbetreuungseintrichtungen, Krippenplätze, Gemeinschaftsschulen, Arbeitszeitverkürzung und eine materielle Grundsicherung für Kinder von 420€ monatlich.

Tagesstätten sind personell und finanziell überlastet

Auch die Leiterin der evangelischen Tagesstätte Mahlzeit für Obdachlose in Hamburg Altona Marion Sachs bedauert die steigende Armut unter Kindern. Seit einem halben Jahr kommen nicht nur die Obdachlosen, sondern auch die Hartz IV-Familien zu ihr ins Haus, um hier sonntags kostenfrei zu frühstücken oder Mittag zu essen:

Die Not ist größer geworden durch Hartz IV. Die Eltern bekommen für Kleidung keine Extrazahlung mehr. Sie müssen von dem wenigen Geld auch noch Strom und Telefon bezahlen, so dass Lebensmittel unerschwinglich werden. Sie kosten ein Vermögen.
Marion Sachs hat eigene Kinder groß gezogen, und weiß um die Not der Mütter. Diese nutzen das kirchliche Hilfsangebot auch deswegen, weil der Kindergarten direkt nebenan ist, und die Kinder „hier sonntags in dem geräumigen, roten und ruhigen Backsteinbau viel Platz zum Versteckspielen haben“. Aber eigentlich hat Marion Sachs für die Bedürfnisse der Kinder nicht die richtige Ausstattung und auch nicht die finanziellen Ressourcen, da die Einrichtung neuerdings auch 36.000€ Miete jährlich bezahlen muss. So sammelt sie zwar aus dem Kleidungsangebot die Gaben der hilfsbereiten Bürger aus dem Viertel und verteilt sie an die Mütter, wovon eine ein Baby und eine andere Mutter vier Kinder hat. Findet sie unter den Kleidern Stofftiere, verschenkt sie sie besonders gerne an die Mütter. Hat Marion Sachs das Gefühl, dass die Kinder in der Tagesstätte, die bis zu sechs Jahre alt sind, noch eine Sprachförderung oder die Mütter eine Schwangerschaftsberatung benötigen, vermittelt sie sie an andere Hilfseinrichtungen. Denn es gibt in der Tagesstätte für Obdachlose „kein Betreuungsprogramm und keine offiziellen Spielräume für die Kinder“. Auch wenn sich alle „hier wie in einer Familie aufgehoben fühlen“, will sie das Anliegen demnächst vor die Altonaer Kirchengemeinde tragen, um für die Not der Kinder geeignete Lösungen zu finden. So könnte sie sich auch vorstellen, dass die Tagesstätte für Obdachlose in Tagesstätte für Bedürftige umgenannt wird.

Von Claudia Hangen

Quelle: Heise
http://www.heise.de/tp/artikel/27/27187/1.html